Dr. Joachim Kreibohm

Zum Werk von Reinhold Budde

Fragen und Antworten

Soll die Kunst auf die Unwirtlichkeit der Welt reagieren oder sich dem schönen Schein der Oberfläche verschreiben? Soll die Kunst nur sein und sich selbst genügen oder Antwort geben auf die großen und kleinen Probleme des Alltags? Sollen der Kunst Utopien und Visionen eigen sein oder soll sie sich pragmatisch orientieren? Ständig sucht die Kunst neue Arbeitsfelder, sucht die Grenzen dessen, was Kunst ist, neu auszuloten. Allenorts Entgrenzungen und Aufgabe eingeübter Demarkationslinien. Die aktuelle Kunstproduktion bietet ein breites Spektrum von Antworten, Bildsprachen, Strategien und Ansätzen. Heute scheint in der Kunst jede stilistische Äußerung und Haltung möglich, verfügbar und daseinsberechtigt. Für die einen hat Kunst nützlich zu sein und Dienstleistungen zu erbringen, die anderen favorisieren nach wie vor das minimalistische Dogma l‘art pour l‘art. Die einen sind handfest, arbeiten mit dem Beitel von außen nach innen und präsentieren als Ergebnis eine Skulptur, die anderen sind längst in virtuelle Welten abgetaucht, die einen setzen auf Politik und Einmischung, umkreisen Themen wie Klimakatastrophe, Urbanismus und Migration, die anderen bemühen innere Befindlichkeiten. Welche Antworten geben die Arbeiten von Reinhold Budde, wie ist sein Werk zu charakterisieren, gibt es einen roten Faden, der sich durch sein Werk zieht und es prägt?

Eine zentrale Kategorie, die es uns erleichtert, sein vielschichtiges Werk zu analysieren und zu versprachlichen ist die des „Dazwischen“. Zum einen leitet sich das „Dazwischen“ aus der Biografie des Künstlers ab. Reinhold Budde ist 1950 geboren und liegt daher vom Alter zwischen den Avantgardekünstlern der 1960/70er Jahre und denen des zeitgenössischen Diskurses. Die einen sind heute 70 bis 75 Jahre alt, die anderen zwischen 30 und 35 Jahre jung. Er hat Design in Hamburg und Malerei in Barcelona studiert. Längere Reisen nach Sri Lanka, Malaysia, Thailand, Hongkong, Macao, Philippinen und China erweiterten den eigenen Erfahrungshorizont. Es ist ihm gelungen, sich den Konjunkturen des Marktes und der Forderung des Zeitgeistes nach ständiger Innovation zu entziehen. Ein Privileg – so konnte er in Ruhe und mit Gelassenheit an seinem Werk arbeiten: konzipieren, verwerfen, bejahen.

Zum anderen betrifft dieses „Dazwischen“ das künstlerische Werk. Seine Arbeiten erschöpfen sich weder in einer bloßen Adaption der Kunst der 1960/70er Jahre noch sind sie den Schnittstellen des zeitgenössischen Diskurses unmittelbar zuzuordnen. Reinhold Budde leugnet weder die historischen Voraussetzungen seiner Kunst noch kapituliert er vor dem großen Vermächtnis der Moderne mit ihren überwältigenden inhaltlichen und ästhetischen Ausformungen. Buddes Werk besitzt das Potential, sich zwischen den Polen avantgardistischer Kunst der 1960/70er Jahre und den Schnittstellen des zeitgenössischen Diskurses zu behaupten. Er hat sich zwischen diesen Polen positioniert. Allerdings ist diese Positionierung weder Ausdruck einer ständigen Unsicherheit, noch ist Reinhold Budde von ständigen Zweifeln geplagt. Vielmehr ist der Antrieb zur Veränderung ein reflektiver Umgang mit dem eigenen Tun, ein kritisches Hinterfragen bisheriger Entwicklung.

Strategien

Selten setzen sich junge Künstler heute systematisch mit bestimmten Kunstströmungen auseinander, um diese fortzuentwickeln und so zu einem eigenen Ausdruck zu gelangen. Stattdessen herrscht das Prinzip des Sampling vor, die Moderne wird mit ihrem gesamten Repertoire zum zitierfähigen Material. Die Ausschließlichkeitspostulate der 1960/70er Jahre sind für die junge Generation schon längst kein Tabu mehr. Heute schließen sich in der Kunst weder Gegenständlichkeit und Abstraktion noch Autonomie und Nützlichkeit aus. Darüber hinaus geht die Bildende Kunst Wechselbziehungen zu Pop, Mode und Design ein. Die Gattungsfrage ist obsolet geworden. Video, Installation, Skulptur und Performance werden ebenso selbstverständlich eingesetzt wie die Malerei. Hingegen trat die Avantgarde mit dem Anspruch auf, den aktuell letzten und gültigen Stand der künstlerischen Entwicklung zu repräsentieren. Diesem Anspruch ist der Glaube an eine kontinuierliche Entwicklung vom Niederen zum Höheren, die Vorstellung einer geschichtlichen Kontinuität immanent.

Ambivalenzen

Einerseits ist der Kunstbetrieb rastlos in der Suche nach dem Neuen, und wir erwarten ständige Veränderungen. Andererseits haben auf fast allen Ebenen lineare Entwicklungsprozesse an Glaubwürdigkeit und Überzeugungskraft verloren. Sei es auf der philosophischen, politischen oder auf der ästhetischen Ebene. An die Stelle eines euphorischen Fortschrittsdenkens, einer kontinuierlichen Entwicklung vom Niederen zum Höheren ist Ernüchterung getreten. Erhoffte gesellschaftliche Veränderungen sind ausgeblieben, Visionen und Utopien haben sich als Irrtum erwiesen. Das Postulat der permanenten Erneuerung hat zu einer Vielzahl unlösbarer gesellschaftlicher Probleme geführt. Auch der sogenannte technische Fortschritt und das scheinbar grenzenlose Wachstum haben ihre Schattenseiten. Ebenso erwies sich die Vorstellung eines teleologischen à priori auf den Triumph des Fortschritts angelegten Entwicklungsprozesses der Kunst als Irrtum. Die eine Avantgarde wurde eben nicht mehr durch die andere Avantgarde abgelöst. Stattdessen ist ein Nebeneinander vieler individueller Sprachen und Ausdrucksweisen in den Vordergrund getreten. Wir wissen, dass wir das Readymade oder den Minimalismus nicht noch einmal erfinden können, dass man nicht monochromer als monochrom, konkreter als konkret, informeller als informell malen kann, dennoch erwarten wir die ständige Entgrenzung bisheriger Werte und hoffen auf das Neue. So ist unser Verhältnis zur Kunst von einer eigenartigen Ambivalenz geprägt. Auch Reinhold Budde stellt sich dieser Ambivalenz. Er kann und will sie nicht auflösen, findet jedoch für sein Werk eine Verlaufsform. Aber wie kann sich das Neue artikulieren? Minimale Verschiebungen, kleine Schritte in diese oder jene Richtung, subtile Differenzen zum Bisherigen sind heute um so wichtiger. Auch braucht das Neue einen Zeitraum, in dem sich herauskristallisieren kann, ob es tragfähig ist.

Monochromie

Selbstverständlich sind dem Künstler die Diskussionen über Malerei geläufig, er weiß, dass dieses Medium eine unendlich lange Geschichte besitzt und schon fast alles versucht wurde. Wie eh und je ist die Auseinandersetzung mit Malerei von unversöhnlichen Gegensätzen geprägt. Für die einen hat das Abenteuer Malerei schon längst seinen Reiz verloren. Für die anderen ist Malerei nach wie vor das große Abenteuer, das es stets aufs Neue zu entdecken gilt. Immer wieder ist das Ende der Malerei postuliert worden und immer wieder hat die Malerei genügend Energien freigesetzt, um zu überleben.

Seit 1990 arbeitet Budde mit monochromen Bildverfahren, die in verschiedenen Medien zur Geltung kommen: Bilder, Zeichnungen und Lithographien. Schon früh hat sich der Künstler vom Absolutheitsanspruch des einzelnen Bildes befreit und arbeitet in Serien, Reihen oder Bildsequenzen. Die flächige Ausstrahlung monochromer Farbräume wurde zum zentralen Wirkungsfeld. Farbe ist das allein konstituierende Element des Bildes. Alle Ebenen des Bildes werden aus der Farbe heraus gestaltet. Farbschicht um Farbschicht wird aufgetragen. Das Ergebnis zeitigt ein magisches, tiefes Schwarz. Der Malprozess dauert oftmals mehrere Monate. Innerhalb dieses langwierigen Arbeitsprozesses entstehen immer neue Bildsituationen. Stets verändern sich Materialität und Erscheinung der Farbe. Eine Bahn nach der anderen mit dem Pinsel zu ziehen, die Balance zu halten, größere Schwankungen zu vermeiden, die Erfahrungen in diesem meditativen Prozess sind für Reinhold Budde existenziell. Der Künstler verzichtet auf einen individuellen Malduktus, ihn interessieren ein homogener Farbauftrag und klar strukturierte Bildflächen. Diese Arbeiten treten uns gleichermaßen geschlossen wie offen gegenüber. Ihre Oberfläche verweist auf den Arbeitsprozess, ohne sämtliche Geheimnisse preiszugeben. Erst der Blick auf den Rand lässt die darunter liegenden Schichten erahnen, an dem sich hunderte von Farbblitzen tummeln und geheimnisvoll aufleuchten. Somit wird die hermetisch geschlossene Oberfläche brüchig. (1)

Wandlungen

Bis 2006 stand die Monochromie in ihren vielfältigen Ausprägungen im Focus seines Schaffens. Diese Konzentration war jedoch nicht begleitet von einem Glauben an die letzte Begründung der Ästhetik, von der Überzeugung, das letzte Bild zu malen oder die Kunstgeschichte zu ihrem Ende zu bringen. Im Jahr 2006 vollzieht sich ein entscheidender Wandel zum bisherigen Werk. Dieser Wandel ist durch Distanz und Affinität, Bruch und Fortsetzung gleichermaßen gekennzeichnet. Weder vollzieht sich die Entwicklung des Werkes in spektakulären Auf- und Abwärtsbewegungen noch in einem harmonischen Gleichklang.

Was waren die Gründe, einen anderen Weg einzuschlagen, haben sich frühere Werkgruppen erschöpft, sind die alten Themen zum Korsett geworden, das neue Entwicklungen verhinderte, war es Unzufriedenheit mit dem Werk?

Scheinbar alltägliche Entscheidungen waren an diesem Prozess maßgeblich beteiligt: Wie lässt sich wohnen, wie soll das Atelier aussehen, wie lassen sich Wohnen und Arbeiten verbinden? Die praktische Antwort auf diese Fragen war das von Reinhold Budde lapidar mit „Kiste auf dem Dach“ bezeichnete Haus- und Wohnprojekt. Das OGO-Gebäude, eine ehemalige Kaffeerösterei in Bremen-Hastedt, bot ihm und weiteren Künstlern Atelierraum. Dann entstand der Wunsch, Arbeiten und Wohnen zu verbinden. Mit der Idee der „Kiste auf dem Dach“ präzisierte der Künstler sein „Konzept zur Erweitung des Raumes“. Formal handelt es sich um eine Art Wohnbox, die nicht als organischer Baukörper in das vorhandene Gebäude integriert, sondern aufgesetzt wurde und sich deutlich von der Umgebung abhebt, was zu Irritationen bei den anderen Bewohnern führte. (2) Die wesentlichen Parameter seiner bisherigen künstlerischen Entwicklung werden in eine eigene Architektursprache transformiert. Reduktion der Form, Konzentration auf Schwarz, Kontemplation, Verschränkung von Malerei und Skulptur, Verwendung spezifischer Materialien setzen sich in architektonischen Elementen fort. Zum einen ist die „Kiste auf dem Dach“ eine Architektur mit der spezifischen Funktion, Arbeiten und Wohnen zu verbinden. Zum anderen geht sein Konzept über rein architektonische Lösungen hinaus. Die Themen und Fragestellungen seiner künstlerischen Arbeiten finden ihre Entsprechung in der Architektur. Somit können die gefundenen Lösungen als Fortsetzung seiner Kunst mit anderen Mitteln gedeutet werden. Die Kiste auf dem Dach öffnet die Tür zu Weiterentwicklungen und neuen Strategien?: den Schritt in die Dreidimensionalität und den Schritt in den realen Raum. Auch die intensive Auseinandersetzung mit der Kunstgeschichte, europäischer und asiatischer Philosophie, Gespräche mit Kuratoren und Diskussionen mit vornehmlich jüngeren Kollegen trugen zum Wandel in seinem Werk bei. (3)

Malerei

Seit 2006 wählt Reinhold Budde Aludibond als Träger für seine Malerei. Die Farbpalette wurde um Weiß, Grau, Gelb und Rot erweitert. Bei den Lackarbeiten auf Aludibond wird neben der Vorderseite auch die Rückseite zum Trägermaterial. Die Vorderseite ist Schwarz, die Rückseite farbig. Diese Arbeiten sind vierseitig gelocht, mit leichtem Abstand zur Wand befestigt, so dass sie ihre jeweilige Farbigkeit auf die Wand reflektieren. Auf diese Weise entstehen Schwingungen zwischen Körper und Wand. Verschiebungen finden statt. Der Farbraum, der vorher auf der Leinwand aufgebaut wurde, hat einen neuen Platz zwischen dem Träger und der Wand gefunden und wirkt als Resonanzraum. Bei einer weiteren Werkgruppe – ebenfalls Lack auf Aludibond – sind die einzelnen Arbeiten zweiteilig, die linke Seite Schwarz, die rechte farbig. Wesentlich ist hier das Verhältnis der beiden Hälften zueinander und das Verhältnis des einzelnen Bildes zur gesamten Reihe. Farbe und Anordnung der industriell lackiertenTafeln erfolgen intuitiv, strenge Formeln und Schemata kommen nicht zum Tragen. Eine andere Serie besteht aus jeweils sechs Tafeln, wobei fünf Tafeln eine identische Farbe aufweisen und die sechste Tafel eine andere Farbigkeit. Lack wird mit dem Pinsel aufgetragen. Beim Handauftrag entsteht eine andere Dichte, die Spiegelung in die Tiefe ist intensiver als bei den industriell lackierten Arbeiten. Träger dieser Serie ist ein Holzkörper, dessen Seiten mit Binderfarbe gestrichen sind. Die Tafel, deren Farbe aus der Reihe fällt, fungiert als Störelement, relativiert den strengen, seriellen Charakter, ohne das Prinzip der Reihe aufzulösen. Die einzelnen Elemente der Reihe bewahren ihre Selbständigkeit und fügen sich gleichermaßen in ein abstraktes Ganzes ein. Einerseits wird jedes Bild als das Bild aufgefasst und verlangt nach Auratisierung, andererseits wird die Bedeutung des Einzelwerkes durch die anderen Bilder relativiert. Jedoch greift hier nicht das minimalistische Dogma „The whole is it“, stattdessen ist das Ganze mehr als die Summe der einzelnen Teile und liefert einen ästhetischen Mehrwert. Arbeiten, die zwischen Malerei und Objekt oszillieren, die sich von der Zweidimensionalität lösen und dem Betrachter körperhaft gegenübertreten. Arbeiten, die durch die gewählte Rhythmisierung und das exakt austarierte Volumen überzeugen und daher eine starke Präsenz im Raum entwickeln. Kennzeichnend für seine Malerei ab 2006 ist die Einbeziehung der Rückseite des Trägers, die behutsame Lösung vom Tafelbild, die Erweiterung der Farbpalette. Farben, die im Verborgenen unter der schwarzen Fläche liegen, werden sichtbar, sind nach vorn geholt, entfliehen ihrem Schattendasein und stehen nun gleichberechtigt neben Schwarz. Für den Betrachter ist die Wahrnehmung komplexer geworden. Der Blick auf die Seite, der versuchte Blick dahinter, der Blick zwischen Tafel und Wand, die Veränderung des eigenen Standortes gewinnen an Bedeutung. So kann der Betrachter auf Entdeckungsreise gehen – ein geduldiges Sehen wird belohnt.

Raumkörper

Die an der Wand befestigten Raumkörper ragen wie ein Block in den Raum. Ihre Sperrigkeit und ihr ungewohntes Volumen irritieren den Betrachter. Die Seiten der Körper sind mit Binderfarbe gestrichen, hingegen ist an der Stirnseite Lack aufgetragen. Auch hier bevorzugt Reinhold Budde den Handauftrag. Zunächst wird der Körper nur von der Seite wahrgenommen, erst der frontale Blick fällt auf die Farbe an der Stirnseite, und so erheischt sie die Aufmerksamkeit, die ihr zusteht. Gekonnt wird das Verhältnis von Volumen, Farbigkeit und Oberfläche ausgelotet. Eine Werkgruppe, die neue Dimensionen eröffnet und bereits den Schritt in den realen Raum plausibel macht.

Profilleisten

Hier greift Budde auf Material aus dem Baumarkt zurück: Profilleisten aus Aluminium. Die Arbeiten bestehen aus zwei schmalen Profilen, die waagerecht mit geringem Abstand an der Wand angebracht sind. Die Ober- und Frontseite sind Schwarz, die Unterseite ist farbig lackiert. Beim zweiten Profil ist das Verfahren umgekehrt. So bildet sich zwischen den beiden Profilen ein Resonanzraum vergleichbar einem Klangkörper. Es entstehen spezifische Objekte, die weder Malerei noch Skulptur sind, sie können in Analogie zum alltäglichen Erfahrungskontext gestellt werden. Der Bezug zur gesellschaftlichen Realität stellt sich her über das gewählte Material und über die Verwendung industrieller Produkte. Lack ist ein modernes Material, findet nahezu überall Anwendung und spiegelt Umwelt und Gesellschaft. Somit sind diese Arbeiten keineswegs Konstrukte eines geschlossenen l’art pour l’art, sondern relativieren die Selbstgenügsamkeit minimalistischer Konzepte.

Auch entstehen Arbeiten, die nicht mehr der Rückversicherung einer Wand bedürfen, sondern den Sprung in den Raum wagen. Profilleisten sind in einer Anordnung von vier, sechs, acht und mehr als Stützen zwischen Boden und Decke aufgereiht. Die Eroberung des Raumes ist eine zweifache, der Raum wird immateriell wie materiell besetzt. Somit werden diese Eingriffe in den Raum zur Einladung an den Betrachter, einen Dialog mit dem Werk und dem Raum einzugehen. Die Schnittstellen zwischen Malerei, Skulptur und Design rücken in den Focus. Reinhold Budde hat für seine Installation die Reihe als Gestaltungselement gewählt, sie knüpft Element an Element und schafft damit räumliche Ausdehnung, geht Schritt für Schritt vor und erzeugt zeitliche Abfolgen.

Diese Arbeiten bewegen sich an der Schnittstelle von Kunst und Design. Hier die Kunst – dort das schöne Ding, hier die Skulptur – dort das Design, diese Gegensatzpaare finden eine Verlaufsform, ohne ihre jeweilige Besonderheit gänzlich aufzugeben. Weder das Eine noch das Andere pocht auf Vorherrschaft, will aber auch nicht auf Aufmerksamkeit verzichten. Ambivalenzen machen auf sich aufmerksam. Zum einen öffnen sich die Arbeiten in ihrer visuellen Erscheinung dem Design, treten dem Betrachter als schönes Ding gegenüber. Zum anderen bleiben die Arbeiten autonom und halten an ihren skulpturalen Eigenschaften fest. Zum einen dienen die Stützen als Raumteiler und tragendes Element. Zum anderen sind sie weder benutzbar noch nützlich. Sie scheinen zugleich Kunst- und Gebrauchsgegenstand zu sein. Ihre Funktion bleibt offen und rätselhaft, der Betrachter befindet sich in einem Raum des Unbestimmbaren. So entstehen neue Wahrnehmungs- und Bedeutungsebenen, die sich wechselseitig überlagern.

Raumarbeiten

„11.41“ lautet der Titel seines Beitrags für die Plattform „Spring“ des Bremer Kunstfrühlings 2009. (4) Zwei Gleisbetten in der Halle am ehemaligen Güterbahnhof hat der Künstler geschwärzt. Diese Schwärzungen sind jeweils 11 Meter und 41 Zentimeter lang und schließen bündig ab. Das erste Gleisbett ist mit Kohlenstoffgranulat bedeckt, die Seitenwand des zweiten auf gleicher Länge mit Bitumen gestrichen. Malerei wird zu einer raum- und ortsbezogenen Installation erweitert. Mit diesem Eingriff begibt sich Budde auf Neuland. Der Eingriff in den Raum bezieht nicht nur Architektur, sondern auch die Geschichte der Gleishalle und des Güterbahnhofs mit ein, ohne seine malerischen Wurzeln auszublenden. Zugleich leitet sich aus dem Titel der Arbeit eine weitere Bedeutungsebene ab. „11.41“ benennt nicht nur Längenmaß der Schwärzungen, sondern erinnert an den November 1941. In diesem Monat wurden am ehemaligen Lloyd-Bahnhof unweit der Gleishalle 570 jüdische Bürger von Bremen nach Minsk in ein Ghetto transportiert. Sechs von ihnen haben überlebt. Eine Arbeit, die inhaltlich aufgeladen ist, ohne moralisierend den Zeigefinger zu erheben und den Pathos einer politischen Korrektheit zu bemühen, die längst zum Mainstream avanciert ist. Auf subtile Weise wird auf die deutsche Geschichte verwiesen. Somit kommen andere Referenzsysteme zum Tragen. (5)

Buddes Beitrag zum Projekt „Palast der Produktion: Plattform 18:50“ in der ehemaligen Wollkämmerei in Bremen-Blumenthal ist auch als installativer Eingriff konzipiert. Achtzehn Säulen der Lagerhalle hat Reinhold Budde mit Bitumen geschwärzt. Eine einfache wie kraftvolle Geste. Die frühere Funktion dieser Säulen, die Decken zu stützen, wird mehrfach entgrenzt. Die Säule wird zum Träger der Malerei, bleibt gleichermaßen Säule wie sie sich zur Skulptur verwandelt. So entsteht ein Bereich zwischen Malerei und Skulptur, zwischen Zwei- und Dreidimensionalität, zwischen Immaterialität und Schwere. Seine Raumeingriffe sind in der Lage, ihre Umgebung neu zu strukturieren und zu einer neuen Raumerfahrung beizutragen. Scheinbar fest definierte Positionen von Fläche, Körper und Raum werden zu einem dynamischen Feld. Diese installativen Eingriffe bündeln das Entwicklungspotential seines bisherigen Werkes.

Resümee

Reinhold Budde erweist sich als Grenzgänger zwischen den Gattungen. Seine Arbeiten entziehen sich einer eindeutigen kategorialen Zuordnung, denn er malt Bilder, gestaltet Objekte und schafft räumliche Situationen. Gekonnt verschränken sich Malerei, Skulptur und Design. Eine Haltung, die das Werk und seine Entwicklung in entscheidender Weise prägt. Ein Werk, dass sich von den Ausschließlichkeitspostulaten der 1960/70er Jahre befreit hat und zu einem Feld offener Beziehungssysteme geworden ist, ohne sich in einem anything goes zu verlieren. Die Arbeiten besitzen das Potential, sich zwischen den Polen avantgardistischer Kunst einerseits und den Schnittstellen des zeitgenössischen Diskurses andererseits zu behaupten, sie verweigern sich dem Diskurs, sofern die Kunst zur Reparaturwerkstatt der Gesellschaft werden soll, sie öffnen sich dem Diskurs, sofern es gilt, die Gattungsgrenzen neu auszuloten.

(1) Die geometrisch abstrakten „Black Paintings“ von Ad Reinhardt, der Umgang mit dem reinen Farbraum auf der Bildfläche von Barnett Newman, die Experimente mit ungewöhnlichen Werkstoffen von Richard Serra haben Reinhold Budde in seiner Entwicklung bis 2006 maßgeblich beeinflusst. (2) Vgl. Kathrin Hager, „Die Kiste auf dem Dach“, (Projekt „OGO“), 2010 (3) So die intensive Lektüre der Werke „Dialog über die Moral: Menzius und die Philosophie der Aufklärung“, „Schattenseiten. Über das Böse und das Negative“, „Die stillen Wandlungen“ des französischen Philosophen und Sinologen Francois Jullien und insbesondere das Gespräch mit Wulf Herzogenrath, dem ehemaligen Direktor der Bremer Kunsthalle. (4) Vgl. hierzu den Aufsatz von Dirck Möllmann, Kurator des Kunstfrühlings 2009, in: „Reinhold Budde Projekt 11.41“, Edition Redux 2011, S. 15 ff. (5) Dieser Arbeit ist das Ideal einer Handlungsanweisung zur Veränderung gesellschaftlicher Verhältnisse fremd. Eine derartige inhaltliche Aufgeladenheit kann dem Werk nicht zugesprochen werden. Kunst habe politisch korrekt zu sein, den Klimawandel zu thematisieren, Welterklärungsmodelle zu liefern – diesen Erwartungshaltungen und Vorschriften gegenüber der Kunst steht Reinhold Budde kritisch gegenüber.

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REINHOLD BUDDE | TEXTE

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